Am 23. Februar jährt sich zum sechzigsten Mal der Tag, an dem das tschetschenische und das inguschetische Volk deportiert wurden. Die Demonstration, zu der Menschenrechtler aus diesem Anlass aufrufen wollten, wurde von den Moskauer Behörden verboten, es sei ja Feiertag und es sei ja zu erwarten, dass viele Leute auf der Straße spazieren würden, und so weiter und so fort ...
Tatsächlich ist dieser Tag jetzt ein offizieller Feiertag. Zu sowjetischen Zeiten war er es nur de facto - die Leute begingen ihn in den Büros mit vielen Schlückchen und Häppchen. Er passte schließlich gut in den Kalender, zwischen den Neujahrsfeiern, zu denen über einen Monat lang ‚nachgeschenkt’ wurde, und dem 8. März, dem „23. Feburar nach altem orthodoxen Kalender, dem Internationalen Frauentag der Sowjetischen Armee und der Sowjetischen Marine“. Nichts schweißt die Belegschaft so sehr zusammen, wie eine endlose Betriebsfeier. Und nun werden wir sogar per Anweisung von ganz oben aufgefordert, auch noch Stolz zu empfinden an diesem Tage...
Aus historischer Sicht ist das Datum des 23. Februar zu eng für eine „Wahrheit der Tatsachen“. Indie Zeit der erfolglosen Versuche bolschewistischer Einheiten die anrückenden Deutschen bei Pskow und Narwa aufzuhalten, fällt jener Tag, der dann zum Geburtstag der Roten Armee erklärt wurde. Hieraus leiten wir nun auch den tausendjährigen Kriegsruhm Russlands ab ...
Bei solch ‚behutsamem’ Umgang mit der historischen Wahrheit zum Aufbau einer „ruhmreichen Vergangenheit“ wird genommen, was gerade kommt. Doch dies alles gehört auf die Goldwaage. Auch der Februar des Jahres 1944.
Anfang der siebziger Jahre erschien die gemeinsame Tschetscheno-Inguschische Sowjetrepublik auf den ersten Blick als die sowjetischste aller Republiken des Nordkaukasus. Unter den Wainachen , die unter Chruschtschow aus Kasachstan zurückgekehrt waren, war keine dissidentische Häresie, Opposition oder unabhängige gesellschaftliche Aktivitäten zu beobachten. Im Unterschied zu den Krimtataren zum Beispiel – aber die wurden ja auch nicht auf die Krim zurückgelassen – wurde im Kaukasus „sowjetische Rechtmäßigkeit wiederhergestellt“. In Partei und Wirtschaft machten sogar nationale Kader von sich Reden. Die Loyalität der örtlichen Bevölkerung wurde darüber hinaus durch eine beispiellose Konzentration von Streitkräften der verschiedensten Spielarten sowie durch die besondere Aufmerksamkeit des KGB bis in die letzte Amtsstube gesichert.
Grosny war eine blühende Stadt mit grünen Boulevards, Erholungsgebieten und dem Stadtforst im Vorort Tschernoretschje. Während der Sommerhitze jedoch erholte man sich am besten in den Bergen. Einmal machten sich einige dieser jungen aufstrebenden nationalen Kader auf, um an einem Gebirgsbach ihre „Betriebsfeier“ abzuhalten. Mit allem nötigen eingedeckt, reichten jedoch die Plätze in den Dienstwagen nicht aus. Zwei von ihnen mussten ‚trampen’ und bald nahm sie ein Jeep der Marke GAZ mit. Einem der beiden – er hat mir die Geschichte später erzählt – erschien das Gespräch, das sich bald entwickelte, etwas merkwürdig, da sowohl der Fahrer als auch sein Mitreisender, Letschi Dobatschewitsch Magomadow, von Zeit zu Zeit rätselhaft in die Runde lächelten. Das Rätsel löste sich, als unsere Helden am Ort des Picknicks eintrafen – der Fahrer war der KGB-Chef des Kreises Schatoj.
Später, nach vielen Gläsern, üppigen Trinksprüchen und ausführlichen Gesprächen kam in der Runde die Frage auf:
„Ach, Kolja, was macht denn eigentlich Chasucha Magomadow ?“
Jener Chasucha war einer derjenigen, die 1944 nicht gefangen und nach Kasachstan deportiert worden waren. Seither hielt er sich in den Bergen versteckt, ging dem Räuberhandwerk nach und erfreute sich – wie es sich für einen kaukasischen Bergkrieger gehört – der Gastfreundschaft der lokalen Bevölkerung.
„Gar nichts macht er. Alt ist er geworden. Sitzt bei seinem Kollegen Selimchan in der Höhle. Sieht so aus, als hätte seine Flinte längst Rost angesetzt...“
Das Bankett in der Natur nahm weiter seinen Lauf und als Kolja gegen Abend unerwartet aufbrechen wollte, baten alle, dass er doch bleiben möge. „Habe noch einiges zu erledigen ...“ antwortete der und ging.
Wie sich später herausstellte, hätte er besser daran getan, die Erledigungen Erledigungen sein zu lassen und weiter zu trinken und zu essen. Denn die Flinte von Chasucha Magomadow war noch voll funktionstüchtig. Mit eben ihr erschoss Magomadow noch in der selben Nacht jenen Tschekisten Kolja Sobkow.
Der letzte der tschetschenischen Bergkrieger wurde 1976 getötet.
Ein offiziell nicht gut geheißener, doch in den russischen „Sicherheitsbehörden“ weit verbreitete Standpunkt lautet: „Stalin hatte Recht“. An einem einzigen Mittwoch im Februar 1944 hatte der „Vater der Völker“ das aufrührerische Volk aus den heimatlichen Bergen, wo Widerstand möglich war, in die fremden kasachischen Steppen deportiert. Und damit hatte Stalin ein Problem gelöst, an dem sich das moderne Russland schon über zehn Jahre die Zähne ausbeißt. Die Anhänger der Stalinschen Deportation sind immerhin bereit zuzugestehen, dass in den Waggons und während des ersten Jahres der Verschickung fast ein Drittel der „Sondersiedler“ durch Berijas Behörde zu Tode gepeinigt wurde. Nach Meinung der Anhänger eines „starken Staates“ ist der damalige Genozid aber durch die Zweckmäßigkeit der Operation gerechtfertigt.
Dieser Streit ist im Übrigen schon alt und die beteiligten Seiten werden kaum zu einer gemeinsamen Einschätzung kommen, auch, wenn sie sich über das tatsächlich Geschehene einig sind.
Ich erlaube mir, eine in dieser Diskussion, wie es scheint, unstrittige These, nämlich die Zweckmäßigkeit des Genozids, in Frage zu stellen.
Oxana, eine Zehntklässlerin aus dem Kuban , erzählt in ihrem Beitrag zum von Memorial durchgeführten Schülerwettbewerb „Der Mensch in der Geschichte – Russland im 20. Jahrhundert“ das Leben ihrer Großmutter, einer Lehrerin:
„... 1947 wurde sie zur Arbeit in das Dorf Schali im Landkreis Vedeno geschickt. Die Gegend war sehr unruhig, weil es das Gebiet der deportierten Tschetschenen war. Und in deren Häuser wohnten jetzt Awaren. Tschetschenische Kommandos verübten oft Überfälle, doch ohne den russischen Lehrern oder Ärzten dabei etwas anzutun. Einmal hatten sie sogar einen Zettel vor die Tür gelegt, auf dem stand, dass sie nichts zu befürchten hätten.“
Im Radio wurde hiervon nicht berichtet, auch nicht in den Zeitungen. Tschetschenen wurden nicht nur aus Tschetschenien deportiert, sondern für dreißig Jahre sogar aus dem Wörterbuch gestrichen. 1957, als der 47. Band der Großen Sowjet-Enzyklopädie erschien, wurde die frisch wiedervereinigte Autonome Republik der Tschetschenen und Inguscheten lediglich mit sechs Zeilen erwähnt. Interessierte wurden auf den 51. Band, einen Ergänzungsband verwiesen.
Die Deportation war nicht vollständig und konnte dies auch gar nicht sein. Schon die wenigen verbliebenen Tschetschenen, vielleicht ein Prozent, konnten handeln. Dies bedeutete Widerstand und Partisanenkrieg. Wie in der Westukraine oder in Litauen, wo nicht die gesamte Bevölkerung deportiert wurde. Und diese Lage blieb so bis in die fünfziger Jahre hinein, ganz wie im Baltikum und im Transkarpatengebiet. Über die Geschichte des dortigen Widerstandes sind wir wenigstens einigermaßen informiert. Durch die Überlebenden. Durch diejenigen, die nicht interniert wurden. Durch schriftliche und mündliche Überlieferung. Von der Geschichte des tschetschenischen Widerstandes erfahren wir nur durch Erinnerungen wie die jener Großmutter, die von der Notiz berichtete, „dass sie nichts zu befürchten hätten“. Dies ist ein Pfand, ein Ehrenzeugnis des Widerstands der ersten Jahre.
Danach gab es nur noch einzelne Bergkrieger, solche wie Chasucha Magomadow. Der hielt sich übrigens elf Jahre länger als die letzten der „litauischen Waldbrüder“.
Also hatte der Genozid seinen „Zweck“ nicht erfüllt. Gegenwärtig gibt es in Russland im Streben wieder „stolz auf seine Geschichte zu sein“ oft den Ansatz, das zu leugnen, was sich nicht reinwaschen lässt. Gab es denn wirklich einen Genozid?
Mag sein, es wurde deportiert. Aber doch nicht nach Babi Jar oder nach Auschwitz! Die Zustände in den Zügen waren vielleicht schlimm, aber damals wurde doch das halbe Land evakuiert. Und wem überhaupt geht es heutzutage gut?
Es ein Dorf, das heißt Chaibach. Genau genommen, gab es das Dorf Chaibach, bis zum 27. Februar 1944.
Am 23. Februar, zu Beginn der Deportationen, hatte starker Schneefall den Bergbezirk Galantschosh von der Ebene und dem Bahnhof, auf dem die Züge warteten, abgeschnitten. Mitarbeiter des NKWD unter dem Kommando des Staatssicherheits-Kommissars 3. Ranges Gwischiani sonderten von den rund 6.000 Einwohnern des Bezirks die Kranken und Alten aus, also diejenigen, die wegen ihrer geschwächten Gesundheit oder ihres fortgeschrittenen Alters nicht im Stande waren, zu Fuß die Gebirgspfade und Schneewehen zu bewältigen. Es waren ungefähr 700 Menschen, die in den Pferdestall der Berija-Kolchose – der Name zeugt von bitterer Ironie - getrieben wurden. Der Pferdestall wurde beschossen, mit Heu umgeben und angezündet.
Folgendes Telegramm ist überliefert:
„Streng geheim. An den Volkskommissar des Inneren der UdSSR, den Genossen L. P. Berija persönlich. Angesichts mangelnder Transportfähigkeit und zur Sicherstellung der termingerechten Durchführung der Operation „Gebirge“ war ich gezwungen, ungefähr 700 Einwohner in der Ortschaft Chaibach zu liquidieren. Oberst Gwischiani“
Im Antworttelegramm teilte Berija mit, dass Gwischiani „wegen seines entschlossenen Handelns“ befördert und zur Auszeichnung durch die Regierung vorgeschlagen wurde. Dieser Schriftwechsel könnte in seiner Art insofern eine Ausnahme gewesen sein, als in anderen Dokumenten die Deportation der Tschetschenen und Inguscheten als Operation „Tschetschewiza“ („Linsen“) bezeichnet wurde.
Das Schicksal des Dorfes Chaibach ist weder Legende, noch war es ein Ausnahmefall. Ähnliches hat sich zum Beispiel auch im Dorf Sumsoj ereignet. Im Februar 1944 war die Vernichtung von Menschen für Vertreter der Exekutive eine Routinesache. Ein anderer Akteur jener Zeit, Adolf Eichmann, war schließlich auch ein einfacher Verwaltungsangestellter.
Diese Zeit hatte jedoch auch ihre Helden.
Aus Einsatzberichten des NKWD geht hervor, dass damals zwei Offiziere verhaftet wurden, die versucht hatten, sich der Vernichtung der Menschen in Chaibach zu widersetzen, der erste stellvertretende Justizkommissar von Tschetscheno-Inguschetien, Malsagow, und der Armeehauptmann Koslow.
In Deutschland legen junge Offiziere ihren Eid an einer Gedenkstätte ab, die an Oberst Stauffenberg und dessen Tat in eben jenem Jahr 1944 erinnert. Wenn es einen Grund gibt, den 23. Februar in Russland als einen Ruhmestag der Armee zu feiern, dann wegen des Verhaltens von Hauptmann Koslow. So kann ein einzelner mit seinem Tun, oder seiner Weigerung etwas bestimmtes zu tun, manchmal die Ehre einer ganzen Nation retten.